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Als die Elektrische ans Netz ging

Vor 125 Jahren rollt die erste Straßenbahn durch Bielefeld

Von Joachim Wibbing

Nur vier Jahre lang hatten sie in Bielefeld geplant und gebuddelt, dann war es schon so weit: Am 20. Dezember 1900 nahm die erste Straßenbahn der Stadt – die „Elektrische“ – mit der Linie 1 ihren Betrieb auf. Zwar nur bis zum „Rettungshaus“, dem heutigen Johanneswerk. Doch für die Stadt eröffnete sich vor genau 125 Jahren nicht nur eine vollkommen neue Verkehrsperspektive: Mit dem Bau eines Elektrizitätswerkes gab es auch gleich noch eine neue Energieversorgung, nämlich mit elektrischem Gleichstrom.

Der „Beleuchtungs- und Verkehrsausschuß“

Im Jahre 1896 hatte der Magistrat der Stadt Bielefeld einen „Beleuchtungs- und Verkehrsausschuß“ eingerichtet. Über den großen Teich war aus Nordamerika die interessante Idee geschwappt, gleichzeitig ein Kraftwerk zu errichten und eine Straßenbahn anzuschließen. Die Idee dazu kam – wie so vieles – aus Nordamerika.

Zur praktischen Anwendung brachte dies der Deutsche Konstrukteur und Unternehmer Werner von Siemens (1816-1892), dessen „Elektrische Straßenbahn“ auf einer Probestrecke 1881/1883 in Berlin-Lichterfelde den Betrieb aufnahm. Für Bielefeld stand von Anfang fest, dass die technischen Neuerungen von der Stadtverwaltung durchgeführt werden, an eine privatunternehmerische Lösung war nicht gedacht.

Betriebsmittel für die Stromerzeugung waren die Steinkohlen. Aber wie viele Kunden würde das neue Kraftwerk haben? Insofern war es nur verständlich, an der Schildescher Straße einen Standort mit direktem Gleisanschluss zu wählen. Denn die „Elektrische“ war ja als erster und größter Kunde schon einmal gesetzt.

Carl Brüggemann – der Vater der Straßenbahn

Die Städte des späten 19. Jahrhunderts litten zunehmend an Mobilitäts- und Transportproblemen. Beides war oftmals nur durch Pferdefuhrwerke sichergestellt. In Bielefeld entspann sich im Frühjahr 1897 eine lebhafte Diskussion um eine zukünftige Straßenbahn, angefacht durch eine umfangreiche dreiteilige Artikelserie in der „Westfälischen Zeitung“.

Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung war von einer Straßenbahn mit Oberleitung überzeugt, die die beiden Arbeitervororte Schildesche und Brackwede verbinden sollte. Zu einem entscheidenden Tag für das Projekt sollte der 1. Dezember 1898 werden: In Carl Brüggemann wurde erstmals ein akademisch gebildeter Techniker in den Dienst der Stadt Bielefeld berufen.

1864 in Gerstheim im Elsass geboren, studierte an der Technischen Hochschule in Aachen Maschinenbau und Elektrotechnik und schloss sein Studium 1892 mit der Diplomprüfung ab, ehe er im Sommer 1893 eine große, vielleicht die wichtigste Reise seines Lebens antrat: In Chicago besuchte er die Weltausstellung, um „die bedeutendsten elektrotechnischen Werke kennen zu lernen”.

Ein Wagnis für den Magistrat

Seine stetig wachsende Expertise blieb auch der Verwaltungsspitze in Bielefeld nicht verborgen: Ende September 1898 wurde Carl Brüggemann vom Magistrat der Stadt mit der Errichtung eines Elektrizitätswerkes und eines Straßenbahnbetriebes in Bielefeld beauftragt und zum 1. Dezember angestellt.

Brüggemann ging sofort ans Werk. Vier Wochen später folgten die ersten Mitarbeiter: der Techniker Josef Vetter und der Buchhalter Kaspar Neu. Knapp vier Monate brauchte Brüggemann zur Vorbereitung des Gesamtprojektes. Die Stadtoberen Bielefelds gingen seiner Zeit durchaus ein Wagnis ein. Umfängliche finanzielle Investitionen waren zu tätigen, die sich vermutlich erst in Jahren oder Jahrzehnten, vielleicht auch nie amortisieren würden.

Eine Elektrische in der Stadt zu haben, bedeutete in jener Zeit ein Prestigeprojekt. Allerdings gab es auch Skeptiker. Karikierende Postkarten zeigten eine dahin „sausende Elektrische, die Kinderwagen, Radfahrer oder Fußgänger einfach überfährt“.

Start ins neue Zeitalter

Für das Gebäude des Gleichstrom-Kraftwerkes sollten regionale Firmen Angebote abgeben. An der Schildescher Straße waren eine zentrale Turbinenhalle, ein Kessel und zahlreiche Stromspeicher vorgesehen. Am Ende des Gebäudes stand ein Schornstein für die Abführung des Rauchs.

Wegen der umfänglichen Einrichtung von Elektrizitätswerken gab es damals im ganzen Land Lieferprobleme. Brüggemann bestellte deshalb bereits Turbinen und Kessel für das Elektrizitätswerk ohne die Bestätigung durch den Magistrat – heute würde man sagen „sehr eigenmächtig“.

Im Herbst des Jahres 1900 konnte das Elektrizitätswerk schließlich in Betrieb genommen werden.

Die „Elektrische“ als Strom-Großabnehmer

Derweil dauerte der Bau der Linie 1 das gesamte Jahr 1900 und führte zunächst vom „Rettungshaus“ an der Schildescher Straße über den Hauptbahnhof, die Bahnhofstraße, den Jahnplatz durch die Niedernstraße, Alter Markt, Obernstraße und dann über die alte Gadderbaumer Straße Richtung Brackwede-Kirche. Von nun an wurden die Masten für den oberirdischen Stromabnehmer Stadtbild prägend.

Am 20. Dezember gingen die Wagen in Betrieb. Die eingesetzten Triebwagen stellen für den heutigen Betrachter durchaus ein Kuriosum dar. Ihnen fehlte nämlich eine Frontverglasung. Der Straßenbahnfahrer stand im Führerstand dem Wind und Wetter ausgesetzt an der Kurbel. Hatte man diese Fenster schlichtweg vergessen? Nein, ihr Fehlen war einer guten Gewohnheit geschuldet. Diese Wagen orientierten sich an den Pferdeomnibussen, die vorne ohne Verglasung blieben, weil der Pferdeomnibuskutscher die Zugpferde dirigieren musste. Winterlicher Schutz boten bloß Teer getränkte Filzmäntel.

Der erste Tag

Trotz der ursprünglichen Bedenken fand die Nutzung der Elektrischen bei den Bielefelder Bürgerinnen und Bürger schnell großen Zuspruch. Schon bald mussten die Taktzeiten verkürzt werden, auch in den Randzeiten wie sonntagabends wurden zusätzliche Züge eingesetzt.

So berichtete die Westfälische Zeitung am folgenden Tage: „Die Elektrische, welche gestern zum ersten Male dem Publikum zur Verfügung stand, erfreute sich sogleich eines regen Besuchs. Schon am frühen Morgen waren die Wagen meist dicht besetzt.“ Eine allgemeine Befürchtung schien sich allerdings nicht zu bewahrheiten – nämlich dass sich die „Elektrische“ nicht rechnen würde.

Dazu notierte die Westfälische Zeitung: „Die Einnahme der elektrischen Straßenbahn hat am gestrigen Eröffnungstage etwa 500 Mark betragen und hat damit den zu einer Rentabilität erforderlichen Betrag um rund 200 Mark überschritten.“

Verlängerung bis „Dorf Schildesche“

Nachdem die Linie 1 Ende Dezember 1900 zunächst nur zum Teil in Betrieb genommen worden war, mussten noch offene Rechtsfragen mit dem Landkreis hinsichtlich der Benutzung der Kreisstraße geklärt werden. So kam es, dass erst Pfingsten 1901 die vollständige Strecke bis ins „Dorf Schildesche“ bedient werden konnte. Die „Elektrische“ endete seinerzeit vor dem Hotel Ravensberg, wo es sich Wirtin Emmy Voss nicht nehmen ließ, anlässlich der vollständigen Streckeneinweihung ein großes Gartenkonzert zu veranstalten.

Was vor 125 Jahren begann, ist heute nicht mehr weg zu denken. Wurden in mehreren westfälischen Städten in den 1960er Jahren die Straßenbahnen abgeschafft, so sprach sich der Bielefelder Stadtrat 1964 für deren Erhalt aus – eine Entscheidung in guter Tradition.

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